„Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, das er zum Erbe erwählt hat“ (Psalm 33,12)
Von Andreas Goetze
Evangelische Christ*innen begehen und feiern den Israelsonntag am 10. Sonntag nach Trinitatis, in diesem Jahr am 16. August. Mit Blick auf den jüdischen liturgischen Kalender liegt der Israelsonntag zwischen Trauer und Neuanfang, zwischen dem Gedenktag Tischa BeAw und dem Neujahrsfest Rosch Ha Schana. Am Fasten- und Trauertag Tischa BeAw wird der Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels im Jahr 586 vor Christus durch die Babylonier und des zweiten Tempels im Jahr 70 nach Christus durch die Römern gedacht. In diesem Jahr fiel er auf den 30. Juli. Und mit dem Neujahrsfest Rosch Ha Schana, das 2020 auf den 19./20. September fällt, verbindet sich die Hoffnung auf ein gnädiges, von Gott geschenktes neues Jahr.
Jahrhundertelang wurde dieser Tag antijüdisch als Tag der Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum begangen. Die Zerstörung des jüdischen Tempels im ersten Jahrhundert nach Christus wurde als Zeichen des göttlichen Gerichts über die Juden interpretiert, die mehrheitlich Jesus nicht als ihren Messias anerkannten. So wurde über die „Ablösung“ des Judentums durch das Christentum gepredigt, verbunden mit der Abwertung, im „Alten Testament“ finde sich nur Gesetzliches, im „Neuen“ aber die Gnade und Liebe Gottes. Weil „alt“ allzu oft mit „überholt“ gleichgesetzt wurde, wird alternativ die wertfreiere Wendung „Erstes und Zweites Testament“ genutzt.
Erst sehr langsam, angeregt durch Predigtmeditationen von „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“, wurde der „Israelsonntag“ als Tag des bußfertigen Gedenkens an christlicher Schuld gegenüber dem Judentum begangen. Im Zeichen der Neubesinnung des Verhältnisses von Christ*innen und Jüd*innen wurde mehr und mehr das Verbindende betont. Das ist bis heute nicht selbstverständlich. Noch oft sind die alten Denk- und Glaubensmuster wahrzunehmen.
Dabei gäbe es ohne das Judentum kein Christentum. Dieser Zusammenhang wurde über Jahrhunderte geleugnet und wirkt bis heute nach. Wir sind am Israelsonntag aufgerufen, zu bedenken, was uns mit dem jüdischen Volk verbindet. Und das ist sehr viel: Als Christ*innen lesen wir das Erste Testament, die Tora und die Propheten. Wir beten die Psalmen, die auch im jüdischen Gottesdienst und am Schabbat gebetet werden. Wir denken und besingen Gott in den großen Worten des Judentums: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Hoffnung, Frieden. Ohne seine jüdischen Wurzeln ist Jesu Botschaft nicht zu verstehen. So entdeckte Martin Luther die befreiende Gerechtigkeit Gottes bei seiner Auslegung von Psalm 31,2: Gott nimmt den Sünder ohne Wenn und Aber an. Sozusagen in „Israels Gegenwart“ kommt ihm die tiefe Erkenntnis der zuvorkommenden Gnade Gottes vor allem menschlichen Tun.
Das Erste Testament ist für uns zum Verstehens-Horizont unseres Glaubens geworden. An einem Beispiel möchte ich das verdeutlichen: Der Bund Gottes mit seinem Volk Israel ist durch das Zweite Testament nicht abgelöst worden, sondern besteht weiter. Gott hat diesen Bund nicht gekündigt, sondern bleibt treu in seiner Liebe. Wenn wir Christ*innen das Erste Testament abwerten und uns von Gottes Treue zu seinem Volk Israeldurch die Geschichte abschneiden, schneiden wir uns ab von unserer eigenen Heilsgewissheit. Das Zweite Testament führt nicht aus dem Ersten heraus, sondern hinein und steht in einem unauflöslichen dialogischen Zusammenhang.
Ob wir am Israelsonntag Jesu Weinen über Jerusalem und die Tempelzerstörung in den Mittelpunkt rücken (Lukas 19,41–48) oder die untrennbare Zusammengehörigkeit von Judentum und Christentum (Markus 12,28–34): Entscheidend ist die Grundhaltung.
Verstehen wir unseren Glaube an Jesus Christus so, dass der Bund Gottes mit Israel als „Alter Bund“ überholt und abgelöst wurde durch die Kirche und ihren „Neuen Bund“ und wir die allein von Gott Erwählten sind? Oder sehen wir uns durch die Geistkraft Gottes in Jesus Christus mit hineingenommen in den einen verheißungsoffenen Bund des Gott Israels, der zugleich der Vater Jesu Christi ist? Können wir unsere messianische Hoffnung dialogisch und nicht ausgrenzend glauben? Das kann schon dadurch beginnen, dass wir erkennen, dass die Nächstenliebe Grundlage und Grundhaltung bereits in der Tora ist (3. Mose 19,18).
So können wir uns vom Israelsonntag für das ganze Kirchenjahr inspirieren lassen, indem wir als Christ*innen verstärkt über Texte des Ersten Testaments predigen, die Psalmen nicht nur auszugsweise, sondern in ihrer Gänze aufnehmen und weiter mit unseren jüdischen Geschwistern im Dialog bleiben.
Andreas Goetze ist Landeskirchlicher Pfarrer für den Interreligiösen Dialog und Mitglied im geschäftsführenden Ausschuss des Landeskirchlichen Arbeitskreis Christen und Juden.
Zum Weiterlesen: Impulse aus dem jüdisch-christlichen Gespräch für evangelische Gottesdienste bietet die Broschüre „Amen?“, die von der EKBO in Kooperation mit dem Institut Kirche und Judentum und der Evangelischen Akademie zu Berlin herausgegeben worden ist. Bestellungen sind möglich bei Andreas Goetze unter a.goetze@bmw.ekbo.de oder als pdf auf der Internetseite des Berliner Missionswerkes: www.berliner-missionswerk.de
Predigthilfe und Materialien für die Gemeinde von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zum Israelsonntag 2020 zum Herunterladen unter www.asf-ev.de/predighilfe oder per E-Mail: infobuero(at)asf-ev.de,
Telefon (030) 283 95-184