Von Reimar Paul (epd)
Holger Langbein aus Rheinland-Pfalz ist mit seinem VW Käfer eigentlich auf dem Weg nach Hamburg, um einen Freund zu besuchen. Als er im Autoradio hört, dass Atomkraftgegner bei Gorleben eine Bohrstelle besetzt und die "Republik Freies Wendland" ausgerufen haben, disponiert er spontan um. Langbein gabelt noch einen Tramper auf und fährt auf den besetzten Platz. "Da habe ich mich zuerst der Handwerkgruppe angeschlossen und dann in der Küchengruppe mitgearbeitet", erzählt er.
Die "Bohrstelle 1004" über dem Gorlebener Salzstock wird am 3. Mai 1980, einem Samstag, von mehreren hundert Atomkraftgegnern besetzt. Mit der Bohrung wollen die Behörden prüfen, ob sich der Salzstock als atomares Endlager eignet. Gut drei Jahre zuvor hat Niedersachsens damaliger Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) das Dorf im Kreis Lüchow-Dannenberg als Standort für ein gigantisches "Nukleares Entsorgungszentrum" benannt: Auf einer Fläche von vier Quadratkilometern sollten eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage, ein Endlager und ein Zwischenlager sowie weitere Nuklearfabriken entstehen.
Trecker-Demo
Im schwach besiedelten und strukturschwachen Wendland, unmittelbar an der Grenze zur DDR gelegen, würden die Leute schon nichts gegen diese Fabriken haben - und erst recht nichts gegen die versprochenen Arbeitsplätze, so Albrechts Kalkül. Doch die meisten Lüchow-Dannenberger lehnen den Bau der Atomanlagen strikt ab. Bauern und Bürgerliche, Einheimische und Zugezogene organisieren den Protest.
Ende März 1979 ziehen Hunderte Landwirte mit ihren Traktoren von Gorleben nach Hannover, sie werden dort von mehr als 100.000 Demonstranten empfangen. Die nächste große Widerstandsaktion ist die Besetzung des Bohrlochs 1004. Auf dem sandigen Waldboden errichten die Demonstranten erste Hütten.
Ein paar Kilometer weiter deckt Lilo Wollny an jenem Mai-Samstag zu Hause gerade den Esstisch ein. "Wir hatten an dem Wochenende Konfirmation, jede Menge Verwandtschaft war zu Besuch", erinnerte sich Wollny noch kurz vor ihrem Tod Ende vergangenen Jahres. Montagmorgen, die Konfirmationsgäste sind gerade abgereist, fährt sie auf den besetzten Platz und fragt, was es für sie zu tun gibt. "Die brauchten noch jemanden, der die Verpflegung organisierte", erzählte sie. "Ich wurde also die Küchenfee und habe mit dafür gesorgt, dass Hunderte Menschen über einen Monat lang jeden Tag was zu essen hatten." Genauer: 33 Tage - so lange existiert die "Freie Republik Wendland" auf dem besetzten Platz.
Häuserbau und die frische Luft machen hungrig. In den Anfangstagen bringen Bauern Kartoffeln und Gemüse, Bäcker das Brot vom Vortag. Frauen aus den Wendland-Dörfern backen Kuchen. "Mein Käfer leistete treue Dienste beim Transport von Lebensmitteln und Getränken ins Hüttendorf", sagt Holger Langbein. Auch das Trinkwasserproblem ist schnell gelöst: Besetzer bohren einen Brunnen und pumpen das Wasser von dort ins wachsende Dorf.
Bretterhütten und Versammlungshaus
Hütten aus Brettern und Baumstämmen werden gezimmert, Gebäude aus Glas und Häuser aus Stroh entstehen, ein großes Rundhaus für Versammlungen, eine Batterie von Latrinen. Und es wird ein Passhäuschen aufgestellt, mit Schlagbaum, wo die Besetzer "Wendenpässe" ausstellen. Über allem flattert die grün-gelbe Fahne der "Republik Freies Wendland". Göttinger Theologiestudenten bauen eine Holzkirche, rund 100 Besucher kommen zum ersten Gottesdienst.
An den Wochenenden wird die "Republik Freies Wendland" zum Ziel von Kaffeefahrten und Familienausflügen. Manche Gäste wollen nur mal gucken, andere bringen Werkzeug mit und helfen beim Werkeln. Auch Gerhard Schröder (SPD), damals Bundesvorsitzender der Jusos, macht dem Hüttendorf seine Aufwartung.
Kein Dorfabend ohne Kultur: Umsonst und draußen spielen Rockbands, Folkgruppen, Theaterkollektive. Auch Wolf Biermann und ein Jugend-Sinfonie-Orchester treten auf. Am 18. Mai geht "Radio Freies Wendland" erstmals auf Sendung. Die Behörden werten das als weiteren Rechtsbruch. Niedersachsens Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) sagt, dass die "scheinbare Idylle und das rechtschaffene, ärmliche und gewaltlose Bild nur Kulisse" seien.
Nach gut einem Monat, am 4. Juni, wird die "Republik Freies Wendland" geräumt. 5.000 Demonstranten stehen und sitzen rund 10.000 Polizisten und Grenzschützern gegenüber, die das Dorf im Morgengrauen umstellt haben. Hubschrauber donnern im Tiefflug über die Baumwipfel. Die Beamten - viele sind vermummt oder haben ihre Gesichter geschwärzt - zerren die Demonstranten aus der Menge und laden sie auf der anderen Seite der Absperrungen wieder ab. Bulldozer walzen die Hütten nieder. "Radio Freies Wendland" berichtet live. Lilo Wollny und die Küchencrew haben ihren letzten Einsatz: "Wir haben noch Tee und Suppe gekocht, als die Räumung schon lief."
Erfolgreicher Protest
Der Protest hat Folgen: Eine Wiederaufbereitungsanlage entsteht nicht, Gorleben wird aber Standort für zwei nukleare Zwischenlager. Der Salzstock wird über Jahrzehnte auf seine Eignung als atomares Endlager geprüft.
Holger Langbein aus Rheinland-Pfalz hat in der Küchengruppe der "Freien Republik Wendland" seine spätere Frau kennengelernt, eine Berlinerin. Das Paar ist nach dem Ende des Hüttendorfes im Wendland geblieben. Gorleben hat ihn "bis heute geprägt", sagt Langbein, politisch und privat.
Auch sonst wird im Kreis Lüchow-Dannenberg die Erinnerung an die "Republik Freies Wendland" wachgehalten. Ein "Untergrundamt Gorleben-Soll-Leben", das schon 1980 zur Platzbesetzung aufrief, regt dieser Tage eine Wanderung zum im Wald versteckten ehemaligen Bohrplatz 1004 an. Wer das Ziel erreicht, kann sich dort seinen alten "Wendenpass" abstempeln lassen.