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Protest gegen Atomkraft und gelebte Utopie

Hütten aus Brettern, ein Schlagbaum, "Wendenpässe": Vor 40 Jahren riefen Atomkraftgegner die "Republik Freies Wendland" bei Gorleben aus. Die Politik hatte sich verschätzt, als sie die vermeintlich ruhige Region für Atomanlagen wählte

33 Tage existierte die "Freie Republik Wendland" 1980 bei Gorleben. Foto: Günter Zint/epd

Von Reimar Paul (epd)

Holger Langbein aus Rheinland-Pfalz ist mit seinem VW Käfer eigentlich auf dem Weg nach Hamburg, um einen Freund zu besuchen. Als er im Autoradio hört, dass Atomkraftgegner bei Gorleben eine Bohrstelle besetzt und die "Republik Freies Wendland" ausgerufen haben, disponiert er spontan um. Langbein gabelt noch einen Tramper auf und fährt auf den besetzten Platz. "Da habe ich mich zuerst der Handwerkgruppe angeschlossen und dann in der Küchengruppe mitgearbeitet", erzählt er.

Die "Bohrstelle 1004" über dem Gorlebener Salzstock wird am 3. Mai 1980, einem Samstag, von mehreren hundert Atomkraftgegnern besetzt. Mit der Bohrung wollen die Behörden prüfen, ob sich der Salzstock als atomares Endlager eignet. Gut drei Jahre zuvor hat Niedersachsens damaliger Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) das Dorf im Kreis Lüchow-Dannenberg als Standort für ein gigantisches "Nukleares Entsorgungszentrum" benannt: Auf einer Fläche von vier Quadratkilometern sollten eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage, ein Endlager und ein Zwischenlager sowie weitere Nuklearfabriken entstehen.

Trecker-Demo

Im schwach besiedelten und strukturschwachen Wendland, unmittelbar an der Grenze zur DDR gelegen, würden die Leute schon nichts gegen diese Fabriken haben - und erst recht nichts gegen die versprochenen Arbeitsplätze, so Albrechts Kalkül. Doch die meisten Lüchow-Dannenberger lehnen den Bau der Atomanlagen strikt ab. Bauern und Bürgerliche, Einheimische und Zugezogene organisieren den Protest.

Ende März 1979 ziehen Hunderte Landwirte mit ihren Traktoren von Gorleben nach Hannover, sie werden dort von mehr als 100.000 Demonstranten empfangen. Die nächste große Widerstandsaktion ist die Besetzung des Bohrlochs 1004. Auf dem sandigen Waldboden errichten die Demonstranten erste Hütten.

Ein paar Kilometer weiter deckt Lilo Wollny an jenem Mai-Samstag zu Hause gerade den Esstisch ein. "Wir hatten an dem Wochenende Konfirmation, jede Menge Verwandtschaft war zu Besuch", erinnerte sich Wollny noch kurz vor ihrem Tod Ende vergangenen Jahres. Montagmorgen, die Konfirmationsgäste sind gerade abgereist, fährt sie auf den besetzten Platz und fragt, was es für sie zu tun gibt. "Die brauchten noch jemanden, der die Verpflegung organisierte", erzählte sie. "Ich wurde also die Küchenfee und habe mit dafür gesorgt, dass Hunderte Menschen über einen Monat lang jeden Tag was zu essen hatten." Genauer: 33 Tage - so lange existiert die "Freie Republik Wendland" auf dem besetzten Platz.

Häuserbau und die frische Luft machen hungrig. In den Anfangstagen bringen Bauern Kartoffeln und Gemüse, Bäcker das Brot vom Vortag. Frauen aus den Wendland-Dörfern backen Kuchen. "Mein Käfer leistete treue Dienste beim Transport von Lebensmitteln und Getränken ins Hüttendorf", sagt Holger Langbein. Auch das Trinkwasserproblem ist schnell gelöst: Besetzer bohren einen Brunnen und pumpen das Wasser von dort ins wachsende Dorf.

Bretterhütten und Versammlungshaus

Hütten aus Brettern und Baumstämmen werden gezimmert, Gebäude aus Glas und Häuser aus Stroh entstehen, ein großes Rundhaus für Versammlungen, eine Batterie von Latrinen. Und es wird ein Passhäuschen aufgestellt, mit Schlagbaum, wo die Besetzer "Wendenpässe" ausstellen. Über allem flattert die grün-gelbe Fahne der "Republik Freies Wendland". Göttinger Theologiestudenten bauen eine Holzkirche, rund 100 Besucher kommen zum ersten Gottesdienst.

An den Wochenenden wird die "Republik Freies Wendland" zum Ziel von Kaffeefahrten und Familienausflügen. Manche Gäste wollen nur mal gucken, andere bringen Werkzeug mit und helfen beim Werkeln. Auch Gerhard Schröder (SPD), damals Bundesvorsitzender der Jusos, macht dem Hüttendorf seine Aufwartung.

Kein Dorfabend ohne Kultur: Umsonst und draußen spielen Rockbands, Folkgruppen, Theaterkollektive. Auch Wolf Biermann und ein Jugend-Sinfonie-Orchester treten auf. Am 18. Mai geht "Radio Freies Wendland" erstmals auf Sendung. Die Behörden werten das als weiteren Rechtsbruch. Niedersachsens Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) sagt, dass die "scheinbare Idylle und das rechtschaffene, ärmliche und gewaltlose Bild nur Kulisse" seien.

Nach gut einem Monat, am 4. Juni, wird die "Republik Freies Wendland" geräumt. 5.000 Demonstranten stehen und sitzen rund 10.000 Polizisten und Grenzschützern gegenüber, die das Dorf im Morgengrauen umstellt haben. Hubschrauber donnern im Tiefflug über die Baumwipfel. Die Beamten - viele sind vermummt oder haben ihre Gesichter geschwärzt - zerren die Demonstranten aus der Menge und laden sie auf der anderen Seite der Absperrungen wieder ab. Bulldozer walzen die Hütten nieder. "Radio Freies Wendland" berichtet live. Lilo Wollny und die Küchencrew haben ihren letzten Einsatz: "Wir haben noch Tee und Suppe gekocht, als die Räumung schon lief."

Erfolgreicher Protest

Der Protest hat Folgen: Eine Wiederaufbereitungsanlage entsteht nicht, Gorleben wird aber Standort für zwei nukleare Zwischenlager. Der Salzstock wird über Jahrzehnte auf seine Eignung als atomares Endlager geprüft.

Holger Langbein aus Rheinland-Pfalz hat in der Küchengruppe der "Freien Republik Wendland" seine spätere Frau kennengelernt, eine Berlinerin. Das Paar ist nach dem Ende des Hüttendorfes im Wendland geblieben. Gorleben hat ihn "bis heute geprägt", sagt Langbein, politisch und privat.

Auch sonst wird im Kreis Lüchow-Dannenberg die Erinnerung an die "Republik Freies Wendland" wachgehalten. Ein "Untergrundamt Gorleben-Soll-Leben", das schon 1980 zur Platzbesetzung aufrief, regt dieser Tage eine Wanderung zum im Wald versteckten ehemaligen Bohrplatz 1004 an. Wer das Ziel erreicht, kann sich dort seinen alten "Wendenpass" abstempeln lassen.

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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