Von Sibylle Sterzik
„Tröpfchen fliegen besonders weit beim Singen.“ So begründete Lothar Wieler, der Präsident des Robert Koch Instituts, seine Warnung vor dem Singen. Seitdem singen wir nicht mehr sonntags in der Kirche. „Ohne Singen ist das kein Gottesdienst“, urteilte kürzlich eine junge Frau, der ich das gar nicht zugetraut hätte. Sie besucht den Gottesdienst eher sporadisch. Im Chor singt sie auch nicht. „Eine Predigt finde ich mühelos im Internet, aber das gemeinsame Singen nicht.“ Wir müssen reden, entgegnete ich schmunzelnd, denn die Predigt ist doch das Herzstück des Gottesdienstes! Aber offenbar liegt dem Singen im Gottesdienst eine besondere Bedeutung zugrunde. Aber welche mag das sein? Wieso vermissen plötzlich Menschen den Gemeindegesang, wo sie sonst eigentlich selten singen?
Dass Singen froh macht und beschwingt, ist eine Binsenweisheit. Singen verströmt aber auch Energie, umso mehr, wenn man zusammen singt. Ein voller Chorklang oder der Gemeindegesang einer vollbesetzten Kirche verströmt eine Atmosphäre der Gemeinschaft, in der sich die Mitsänger*innen aufgehoben und zugehörig fühlen können.
Musik ist eine ganz eigene Sprache. Sie verstärkt Gefühle und drückt sie besser aus als ein gesprochener Text. Singen wiegt Kinder in den Schlaf. Jemand sitzt am Bett und der Klang beruhigt, ja, lässt allen Spuk im Kopf verschwinden. Schon David wurde zu Saul gerufen, damit er vor dem König spiele und sein Gemüt erhelle. Saul ist König – doch er ist gefangen in familiären Verstrickungen und Glaubenszweifeln. Was ihm hilft? Die Musik. Gegen den Sog der Traurigkeit spielt der Musikpädagoge David an. Und „sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm“ (1. Samuel 16, 23). Auch die aus Jerusalem deportierten Juden saßen an den Ufern zu Babylon und sangen ihren Schmerz heraus. Wie durch die geöffneten Schleusen entweicht er wenigstens für Momente.
„Musik kann Veränderungen im Hirn auslösen, die über andere Wege nicht gelingen“, meint die Salzburger Forscherin Vera Brandes. Glückshormone werden ausgeschüttet, die Muskelaktivität, Körpertemperatur sowie Blutdruck und Herzfunktionen verändert. Kein Wunder, dass das beglückende Singen uns in diesen Tagen der Corona-Gefahr so sehr fehlt.
Musik hilft, vom Unsagbaren zu sprechen. Wer von einem Lied angerührt wurde, lässt sich mittragen vom Schwung einer Melodie; der Text des Liedes „spricht“ einen an, und man hört ihn neu, persönlich. Musik ist auch Stille und Konzentration. Beim Singen hört man in sich hinein.
Auf das Singen ist das Fundament lutherischer Kirchenmusik gebaut. Komponisten und Textdichter gaben ihrem Glauben, der Verbindung mit Gott, ihren Gedanken und Gefühlen dazu, Ausdruck in Tönen und Texten. Im Gesang der Gemeinde findet das seinen Widerhall.
Musik kann Gemüter bewegen, das weiß man seit biblischen Zeiten. Im Alten Testament kommen Harfen, Flöten, Zimbeln, Hörner, Trompeten und Posaunen vor. Nach der Befreiung des Volkes Israel schlug Miriam die Pauke. Die Mauern von Jericho stürzten beim Donnerklang der Posaune. Maria sang jubelnd, als der Engel ihr die Geburt ihres Kindes ansagte. Musik kann loben und klagen, beruhigen und beleben, jubeln und heilen.
In der Bibel werden wir zum Singen aufgefordert. In Psalm 96 steht: „Singet dem Herrn ein neues Lied; singet dem Herrn, alle Welt!“ Wie in den Psalmen spielt in vielen anderen Büchern der Bibel das Singen eine gewaltige Rolle – warum aber sollen wir singen? Um uns selbst zu vergewissern und anderen zu erzählen: Gott ist ein Gott, der rettet. Er befreit uns durch Jesus von einem Leben ohne ihn, ohne Liebe, Güte, Hoffnung und Frieden. Nichts anderes bedeutet der Name Jesus: Gott rettet. Darum: „Singet dem Herrn und lobet seinen Namen, verkündet von Tag zu Tag sein Heil! Erzählet unter den Heiden von seiner Herrlichkeit, unter allen Völkern von seinen Wundern!“
Wenn schon nicht im Gottesdienst, dann eben draußen vor der Kirche. Nach jedem Gottesdienst stellt sich die Ostergemeinde auf die Stufen, der Kantor setzt den Bogen an die Violine und dann singen sie, manche mit, manche ohne Masken, hinein in den Berliner Sprengelkiez.