Von Hannes Langbein
Berlin. Unter der Haut funkeln die Kerne. Wie Edelsteine funkeln die rotfarbigen Samenkörner des Granatapfels, prall gefüllt mit blutrotem Saft, wenn man seine ledrige Haut und die weißen Zwischenhäute entfernt.
Der Granatapfel, der seinen Namen (von Lateinisch „granum“ = Kern, Same) von seinen Kernen hat, ist eine vieldeutige Frucht: Im Hohelied Salomos im Alten Testament steht er für die Verlockungen der Schönheit und der Liebe: „Deine Schläfen sind hinter Deinen Haaren wie der Ritz am Granatapfel …“, ruft der Geliebte seiner Geliebten zu. Die Augen- und Sinneslust, die sich am Granatapfel entzünden kann, hat dazu geführt, in ihm auch die verbotene Frucht im Garten Eden zu erkennen. Im Christentum ist der geöffnete Granatapfel als Symbol der Wunde und des Schmerzes, zugleich aber auch als Symbol für Fruchtbarkeit und neues Leben gelesen worden. Die armenische Kirche hat in ihm ein Symbol der Kirche und ihrer vielen Glieder erkannt.
Hoffnungsbild der Liebenden
In Gentile Bellinis (1429–1507) Bild hält ihn das Christuskind beinahe wie ein königliches Herrschaftszeichen auf der Höhe seines Herzens. Zugleich zeigt es uns das fleischige Innere der Frucht mit
seinem rotfarbenen Saft und verweist – noch in der Hand des Kindes – auf die Passion des erwachsenen Gottessohnes: „Das ist mein Leib, das ist mein Blut …“ – Sein Segensgestus gilt einem betenden Paar, vermutlich einem Stifterpaar, das um den Segen ihrer Ehe oder – noch wahrscheinlicher – als bereits verheiratetes Paar um den Segen eines Kindes bitten könnte. Die Sehnsucht nach Fruchtbarkeit und der Schmerz ausbleibender Fruchtbarkeit schwingt in der Verbindung der Symbole mit und macht das Bild zu einem Hoffnungsbild der Liebenden.
Die Spielarten der Liebe
„Deine Schläfen sind hinter deinem Schleier wie eine Scheibe vom Granatapfel.“ Das Hohelied Salomos mit seinem immer wiederkehrenden Motiv des Granatapfels ist ein Buch über die zwischenmenschliche Liebe. Zugleich ist es auch als Buch über die Liebe zwischen Maria und Christus, Christus und den Menschen gelesen worden. Gentile Bellinis Bild fasst die verschiedenen Spielarten der Liebe auf engstem Raum zusammen.
Wer genau hinschaut, kann nach Jahren der Bildalterung erkennen, dass der Goldgrund des Bildes mit roter Farbe grundiert ist. „Bolus“ heißt das geleimte, roterdige Pigment aus Armenien, das die Maler dafür benutzten, das Gold des Gottesglanzes auf ihren Bildern haften zu lassen. Unter der goldenen Haut des Bildes erscheint die Farbe des Granatapfels. Man könnte sagen: Das Blut Christi und der Glanz Gottes bedingen einander.
Pfarrer Hannes Langbein ist Direktor der Stiftung St. Matthäus und Kunstbeauftragter der EKBO.