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Wie ein Brennglas

Ein Jahr nach dem Vierfachmord im Oberlinhaus

Matthias Fichtmüller, theologischer Vorstand des Oberlinhauses. Foto: epd-bild/Christian Ditsch

In einem Gedenkgottesdienst erinnert das Oberlinhaus am 28. April an die vier Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die von einer Pflegekraft getötet wurden. Die Frau wurde wegen Mordes verurteilt und wegen einer schweren Persönlichkeitsstörung in die Psychiatrie eingewiesen. Eine Erkenntnis daraus sei, dass es absolute ­Sicherheiten nicht gebe, sagt der theologische Vorstand des Oberlinhauses, Matthias Fichtmüller, im Interview mit Yvonne Jennerjahn (epd). Kein Konzept und keine Prophylaxe könnten eine solche Tat verhindern.

Herr Fichtmüller, wie geht es den Menschen im Oberlinhaus ein Jahr nach dem Gewaltverbrechen vom 28. April 2021?

Sowohl Bewohnerinnen und Bewohner als auch die ­Mitarbeitenden haben in ihren ­Alltag zurückgefunden. Seelsorgerliche Angebote gibt es je nach Bedarf weiterhin sowie alle Formen des Austausches wie Supervisionen, Mitarbeitergespräche und so weiter. Das Gespräch ist wichtig. Auf allen Ebenen des Oberlin­hauses sind die Geschehnisse des vergangenen Jahres präsent. Manche Äußerungen während der Berichterstattung über den Prozess haben Bewohnerinnen und Bewohner und Mitarbeitende sehr irritiert, weil ihr ­Lebensalltag von anderen Eindrücken geprägt ist.

Nach einer Zeit der sensiblen Rücksichtnahme und nach Abschluss des Prozesses mit Urteilsverkündigung am 22. Dezember 2021, war es Bewohnerinnen und Bewohnern und Mitarbeitenden wieder möglich, sich unter respektvoller ­Behutsamkeit den Fragestellungen beispielsweise von Medienvertreterinnen und Medienvertretern zu ­öffnen. Das hat dazu geführt, dass nun auch differenziertere Wahrnehmungen aus dem Lebensalltag von Menschen, die schwerst-mehrfachbehindert sind, möglich sind.

Wie haben die Gewalttaten das Leben der Menschen verändert?

Eine Erkenntnis ist: Absolute ­Sicherheiten kann niemand geben. Kein Konzept, keine Intervention und auch keine Prophylaxe kann solch eine Tat verhindern. Auch nicht mit einem Konzept zu Amokläufen, wie wir sie zum Beispiel in den Schulen und im Oberlin­ Berufsbildungswerk haben. Natürlich haben wir ­Gewaltschutzkonzepte in jeder unserer Einrichtungen, aber auf eine solche singuläre Tat konnten wir nicht vor­bereitet sein. Nach Aussagen der Polizei hätten wir das, was am 28. April 2021 passiert ist, nicht verhindern können.

Wir haben uns zuallererst um die 60 Bewohnerinnen und Bewohner und um die Mitarbeitenden im Thusnelda-von-Saldern-Haus zu kümmern. Der 28. April 2021 hat uns nicht nur aus der Bahn geworfen, sondern uns in eine neue Verantwortung genommen: für Klientinnen und Klienten, aber auch für die Mitarbeitenden. Wir haben es von ­Anfang an geahnt, und im Laufe der Zeit ist es Gewissheit geworden: Es gibt Fragen im Zusammenhang mit der Tat, die wir niemals beantwortet bekommen. Und das ist ein Zustand, der alle, ob Medienvertreter, Bewohnerinnen und Bewohner oder Mit­arbeitende in einer gewissen Schwebe hält. Aber wir müssen akzeptieren, dass wir auf das „Warum“ keine Antworten bekommen.

Wie geht das Oberlinhaus damit um?

Immer wieder machen wir Mut, sich zu engagieren. Dazu gehört beispielsweise, sich für die Bewohnerschaftsräte aufstellen zu lassen, sich mit anderen Bewohnerschaftsräten zu vernetzen. Wir haben insofern nichts Neues erfunden, sondern das, was bereits vor­handen war, in den besonderen Fokus gerückt. Gleichzeitig wurden viele Gespräche mit den Landes- und Kommunal­beauftragten für Menschen mit Behinderungen geführt. Viele dieser Gespräche haben hier vor Ort im Oberlinhaus statt­gefunden. Wir stehen bis heute in einem sehr intensiven Austausch.

Wie weit ist die Expertenkommission, die vom Oberlinhaus Anfang des Jahres einberufen wurde, um sich mit Standards in Wohneinrichtungen für Behinderte zu befassen?

Mit der Gründung einer ­Expertenkommission wollen wir die Rahmenbedingungen in der Eingliederungshilfe und die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes diskutieren. Was muss sich ändern? Wie kann das Bundesteilhabegesetz in der Eingliederungshilfe umgesetzt werden? Welche Personalaufstellung ist notwendig? Die Rahmenbedingungen und Bedürfnisse der Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung brauchen eine Aufmerksamkeit und eine Verbesserung, wie auch die Rahmenbedingungen der Beschäftigten in der Eingliederungshilfe. Unser ursprüngliches Ziel, bis Ende August 2022 erste Ergebnisse vorstellen zu können, werden wir aufgrund der Komplexität nicht einhalten können. Die Expertengruppe setzt sich aus Vertretern von Verbänden, Trägern, Wissenschaft, Lehre sowie Recht zusammen.

Wann ist mit ersten Ergebnissen zu rechnen?

Erste Zwischenergebnisse planen wir, im Spätherbst dieses Jahres kommunizieren zu können.

Was muss sich im System der Eingliederungshilfe für Behinderte ändern?

Wir haben in den vergangenen Monaten deutlich erkannt, dass das Wissen um Teilhabeleistungen, vor allem in der ­Assistenz von Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung, in der Öffentlichkeit sehr wenig ­bekannt sind. Hinzu kommt, dass auch die unterschiedlichen Bedarfe von Menschen mit Behinderungen sehr undifferenziert wahrgenommen werden, da dies tatsächlich auch eine große Komplexität hat.

Die Geschehnisse im Oberlinhaus haben ein Brennglas auf die Rahmenbedingungen von Teilhabeleistungen und Bedarfen von Menschen in ­besonderen Wohnformen in ganz Deutschland gelegt. Wenn es eine Lehre aus den Ereignissen des gesamten letzten Jahres gibt, dann diese, dass wir berichten müssen, wie die ­gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Eingliederungshilfe sind. Und was die Gesellschaft oder jeder einzelne Mensch dazu beitragen kann, um sie zu verbessern. Was ist der Gesellschaft eine gute Pflege wert? 

Das ist keine abstrakte Frage, das betrifft auch Sie und mich. Spätestens beim Bemessungssatz für die Pflegeversicherung ist die Beantwortung dieser Frage bei jedem und jeder Einzelnen angekommen. Aber die Expertenkommission ist kein politisches Gremium. Es geht vielmehr darum, Verbesserungsideen für die Eingliederungshilfe und auch für die Ausbildung in Teilhabe­berufen zu entwickeln. Dabei liegt die Prämisse auf Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderungen.

 

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1. Recht auf teilhabe von Christina -Maria Bammel, Wv. Wochenzeitung :die Kirche,Nr.16, vom 14,04.2024 Wolfgang Banse Worten müssen Taten folgen
Teilhabe hin, Teilhabe her, Inklusion, Rerhabilitation wird nicht gelebt , was Menschen mit einem Handicap in Deutschland, im weltlichen, wie auch im kirchlichen Bereich betzrifft. so auch was die Gliedkirche EKBO betrifft.Integration m und Inklusion sieht anders aus, was was im Alltag erleb, erfahrbar wird.Nicht nur der Staat, s ondern auch die Kirche, die Kirchen dind w eit n fern vom Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes. "Niemand darf auf Grund...benachteiligt werden!:Homosexualität, Lesbilität wird chauffiert, Handicap nicht. Hier wird der Gleichheitsgrundsatz verworfen. Ouo vadis EKBO, wes Menschen mit einem Handicap betrifft.
2. Offen sein - für alle Menschen Gert Flessing Ja, eine Kirche, die auch für die Menschen weit offen ist. Ich glaube, dass wir das brachen. Die Idee der Forster Pfarrer ist gut. Natürlich gehört dazu, das man selbst auch bereit sein, sich für alle zu öffnen. Das Gespräch mit dem frustrierten Menschen, der AfD wählt, zeigt, wie nötig es ist - auch wenn man jemanden nicht überzeugen kann.
Die Flüchtlingspolitik polarisiert natürlich und - die Ängste der Menschen sind da. Dass sie gerade in der Nähe der polnischen Grenze besonders hoch sind, verstehe ich. Grenzregionen sind immer sensibel. Aber so wenig, wie wir die Migranten verteufeln dürfen, sollten wir sie zu sehr positiv betrachten. Sie sind Menschen und Menschen sind nicht per se gut. Jeder von uns weiß ja, das jemand, der neu in den Ort kommt, egal woher er ist, skeptisch betrachtet wird.
Schon von daher ist das offene Gespräch, das niemanden außen vor lässt, wichtig.
Ich habe es, zu meiner Zeit im Amt, immer wieder geführt. Auch in der Kneipe, wenn es sich anbot. Aber auch wir haben, als eine Flüchtlingsunterkunft in unserem Ort eröffnet wurde, die Kirche für eine große Bürgersprechstunde geöffnet, die sich, in jeder Hinsicht, bezahlt gemacht hat.
Bei alle dem dürfen wir nie vergessen, das wir Kirche sind und nicht Partei. Dann werden wir auch das für diese Arbeit notwendige Vertrauen bei allen Seiten finden.
3. Kontroverse über Potsdams Garnisionskirche hält an Wolfgang Banse Kein Platz für alle
Nicht jede, nicht jeder kam die Ehre zu Teil am Festgottesdienst am Ostermontag 2024 teil zu nehmen , mit zu feiern.Standesgesellschaft und Standesdünkel wurde hier, sonst auch was in kirchlichen Reihen praktiziert wird.Ausgrenzung, Stigmatisierung,Diskriminierung.Gotteshäuser sind für alle da. Hier sollte es keine Einladungskarten geben, gleich um welche Veranstaltung es sich handelt. Verärgerung trat auf bei Menschen, die keinen Zugang zur Nagelkreuzkapelle hatten.Aber nicht nur verärgerte Menschen gab es an diesem Ostermontag vor der Nagelkreuzkapelle, sondern auch Demonstration , von anders Denkenden, die eine Inbetriebnahme der Nagelkreuzkapelle befürworten.Ein großes Polizeigebot war zu gegen, um die Geladenen zu schützen.Was hat der Einsatz des Sicherheitskräfte, der Polizei dem Steuerzahler gekostet.Ein Gotteshaus wie die Nagelkreuzkapelle in Potsdam soll ein Ort des Gebetes, der Stille, Andacht sein.Garnison hört sich militärisch an-dies sollte es aber nicht sein.Die Stadtgesellschaft in Potsdam ist gespalten, nicht nur was die Nagelkreuzkapelle betrifft.Möge das Gotteshaus ein Ort des Segens sein.Offen und willkommen für Klein und Groß, Jung und Alt.

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